Drei 5-Euro-Scheine aufgefächert vor schwarzem Hintergrund - Symbolbild für 15 Euro Mindestlohn

15 Euro Mindestlohn – eine fehlgeleitete Diskussion

Die Ausgestaltung unserer Wirtschaftsordnung als soziale Marktwirtschaft war und ist eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg Deutschlands – in den vergangenen 75 Jahren wie heute und morgen. Das freie Spiel der Kräfte gilt nicht ohne Einschränkungen. Angestrebt ist ein ausbalanciertes Verhältnis von freier Marktwirtschaft und wohl dosierter Regulierung, wo es erforderlich ist, um ein gesundes soziales Miteinander und den Schutz Schwächerer zu gewährleisten. Natürlich gelingt das leider nicht immer, aber als System und grundlegendes Prinzip unserer Wirtschaftsordnung ist es zweifelsfrei eine erstklassige Wahl.

Eine der besonderen Ausprägungen der sozialen Marktwirtschaft, die Ludwig Erhard und seine Mitstreiter konstituiert haben, ist die besondere Bedeutung der Sozialpartnerschaft – sicher auch ein Verdienst des DGB-Mitgründers Hans Böckler. Der Sozialpartnerschaft liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die primär Betroffenen im Miteinander oft zu sachnäheren Entscheidungen und Lösungen kommen, als dies eine staatliche Regulierung könnte. Darüber hinaus ist die Akzeptanz gefundener Kompromisse höher, wenn beide Seiten beteiligt waren. Art. 9 Abs. 3 unseres Grundgesetzes dient dem besonderen Schutz dieser Sozialpartnerschaft.

Ein gutes Beispiel ist das Tarifwesen im Arbeitsrecht, bei dem der Staat es Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften überlässt, mehr als nur Lohnvereinbarungen zu treffen. So wurden in der Vergangenheit beispielsweise Arbeitszeitregelungen getroffen und Weiterbildungsmöglichkeiten geschaffen. Auch die Festlegung eines Mindestlohns als Eingriff in die grundsätzliche Vertragsfreiheit ist mit der Mindestlohnkommission im Regelungsgedanken ein gutes Beispiel dafür, wie zentrale Arbeitsbedingungen im Miteinander festgelegt und nicht gesetzlich angeordnet werden. Zuständig hierfür ist die Mindestlohnkommission, paritätisch besetzt mit den Sozialpartnern, einem neutralen Vorsitz und wissenschaftlich beraten – neun Mitglieder in Summe.

Im Jahr 2022 wurde die Mindestlohnkommission durch den Gesetzgeber ausgehebelt, indem dieser selbst den Mindestlohn festlegte. Damit war das Tabu gebrochen und wie zu erwarten wurde das Thema Mindestlohn auch zum parteipolitischen Wahlkampfthema der letzten Bundestagswahl. Zwar haben die Parteien letztlich in den Koalitionsvertrag keinen festen Mindestlohn aufgenommen, aber sie haben einen so hohen Druck auf die Mindestlohnkommission in Richtung 15 Euro aufgebaut, dass von einer freien Entscheidung kaum noch die Rede sein kann.

Unabhängig von der Höhe des Mindestlohns bin ich der festen Überzeugung, dass diese Art der Entscheidung oder Entscheidungsbeeinflussung falsch ist. Sie bricht mit bewährten Elementen unserer Wirtschaftsordnung und Sozialverfassung und führt zu negativen Konsequenzen. Wie meistens, wenn Entscheidungen aus dem Raum der Fachkompetenz auf die politische – und in diesem Fall auch populistische – Bühne gezogen werden: Dadurch wird die Entscheidung nicht besser. Auch für das soziale Klima ist diese Art der Entscheidungsfindung nicht von Vorteil. Allem voran mangelt es an Respekt vor den Sozialpartnern und damit auch vor wesentlichen strukturellen Entscheidungen unserer (Wirtschafts-)Verfassung.

Wie auch immer der Entscheidungsweg war, im Ergebnis ist zu erwarten, dass der Mindestlohn von jetzt 12,82 Euro auf einen Betrag in der Größenordnung von 15 Euro anwachsen wird (nur am Rande sei erwähnt, dass der Mindestlohn Anfang 2021 bei 9,50 Euro lag). Ist dieser kräftige Anstieg gut oder schlecht?

Zunächst muss man sicher eines festhalten: Vermutlich gibt es kaum jemanden, der denkt, dass 15 Euro Mindestlohn ein bequemes Leben ermöglicht. Die meisten Menschen, und da schließe ich mich ausdrücklich ein, können nicht ernsthaft mitreden, wenn es um die Frage geht, wie man mit den aktuellen 12,82 Euro oder auch mit 15 oder 16 Euro Stundenlohn sein Leben ohne Anspannung gestalten soll, angesichts steigender Kosten und der dramatischen Situation am Wohnungsmarkt. Insofern gibt es natürlich hohe Sympathie für einen weiteren kräftigen Anstieg des Mindestlohns.

Gleichzeitig hat die Entwicklung des Mindestlohns weitreichende Folgen für diejenigen, die ihn bezahlen müssen. Und das sind nicht nur die Arbeitgebenden, sondern im Ergebnis mittelbar auch deren Kundinnen und Kunden. Lohnkosten haben bei im Inland konsumierten Produkten oder in Anspruch genommenen Dienstleistungen eine unmittelbare Auswirkung auf die Verbraucherpreise. Und dabei geht es nicht nur um „Luxus-Leistungen“, wie die Portion deutscher Spargel im Restaurant, die teurer wird, weil die Spargelstecher und das Restaurantpersonal mehr verdienen. Es gilt auch für den Döner oder Burger und für das Brot beim Bäcker oder Discounter.

Steigende Mindestlöhne wirken nicht nur in diesem Lohnsegment. Sie schieben das komplette Lohngefüge nach oben, was die Auswirkung verstärkt und den Mindestlohn auch relevant für Branchen macht, die über Mindestlohn zahlen, aber durch die Mindestlohnerhöhung auch nach oben anpassen müssen. Damit wird letztlich auf breiter Ebene die Tarifautonomie beschädigt.

Im Ergebnis werden manche Geschäftsmodelle nicht mehr möglich sein, einfach weil die Leistung im Wettbewerb zu teuer wird oder zu wenige Menschen sie sich leisten können oder wollen. Insofern geht es auch um Arbeitsplätze.

Dieser komplexen Gemengelage wird man nicht gerecht, wenn in einer hitzigen politischen Diskussion eine magische Zahl in den Raum geworfen wird, ohne die Konsequenzen durchdacht zu haben und anzuerkennen. Steigt man noch eine Detailebene tiefer, so zeigt sich, wie unredlich die politische Diskussion ist:

Die Diskussion um plakative 15 Euro geht an der Realität für die Betroffenen vorbei. Für sie ist es nämlich kein Anstieg von 12,82 Euro um 2,18 Euro, denn der Mindestlohn ist ein Bruttolohn. Und für die Unternehmen sind es auch nicht „nur“ 2,18 Euro mehr, denn Gehaltszahlungen sind nicht nur steuer-, sondern auch sozialversicherungspflichtig.

Greifbarer wird es, wenn man sich Monatszahlen ansieht (nachfolgend vereinfachend gerundet und auf Basis der heute geltenden Steuer- und Sozialversicherungssätze):

Beim aktuellen Mindestlohn von 12,82 Euro ergibt sich bei einer 40-Stunden-Woche ein monatlicher Brutto-Lohn von ca. 2.220 Euro. Das ergibt für Singles netto rund 1.600 Euro.

Steigt der Mindestlohn um 2,18 Euro pro Stunde auf 15 Euro, so sind es im Monat 2.600 Euro brutto (also 380 Euro mehr), netto 1840 Euro (also nur 240 Euro mehr). Das Delta von 140 Euro sind die zusätzliche Lohnsteuer sowie Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmenden.

Aus Sicht der Arbeitgebenden steigen die Brutto-Aufwendungen von rund 2.670 Euro beim jetzigen Mindestlohn auf 3.120 Euro – also 450 Euro mehr. Aus 3.120 Euro Kosten auf Unternehmensseite verbleiben also nur 1.840 Euro netto, die beim Arbeitnehmenden ankommen – gut 40% Abzüge.

Wenn also der Gesetzgeber auf einen steigenden Mindestlohn dringt, dann profitiert der Staat durch zusätzliche Steuern. Man kann sich schon fragen, warum eine Mindestvergütung am untersten Rand festgelegt wird, weil sie als absolutes Minimum angesehen wird, gleichzeitig aber auf derart geringe Gehälter eine Steuer erhoben wird. Noch problematischer wird es, wenn man bedenkt, dass viele Menschen mit Mindestlohn nur durch zusätzliche Transferleistungen über die Runden kommen. Der Staat erhebt also auf geringe Einkommen Steuern, um damit dann Sozialleistungen zu bezahlen, die Geringverdienern dann wiederum zugutekommen. Ich kenne die Prozesskosten nicht, aber es würde mich nicht wundern, wenn dieses „Durchlauferhitzen“ wenigstens 25% Prozesskosten verursacht.

Es ist also durchaus eine Überlegung wert, ob der Staat nicht besser einen konstruktiven Beitrag zur Verbesserung der Situation im Niedriglohnbereich leisten sollte, indem er auf derart niedrige Einkommen eine niedrigere oder überhaupt keine Lohnsteuer erhebt (und idealerweise auch die Sozialversicherungsbeiträge anpasst). Für die Arbeitnehmenden wäre es besser und würdevoller, dieses Geld selbst netto zu verdienen, als es vom Staat einfordern zu müssen. Und auf der Seite der Arbeitgebenden hilft jede Erleichterung auf der Kostenseite, um derartige Arbeitsverhältnisse überhaupt sichern zu können.

Auch wenn ich mich damit auf sehr dünnes Eis begebe: Vermutlich geht es am Ende allenfalls um einen sehr kleinen Bruchteil des gesamten Steueraufkommens, der zudem teilweise durch Komplexitätsreduktion und Einsparungen in der Verwaltung refinanziert werden könnte. Sicher ist der Mindestlohnbereich nicht der einzige, bei dem „mehr Netto vom Brutto“ eine unterstützenswerte Forderung ist. Aber gerade für Menschen, die den Mindestlohn erhalten, ist die Auswirkung sehr stark zu spüren und gleichzeitig ist dieses Segment arbeitsmarktpolitisch bedeutend. Dies sind die Fragen, die im Zentrum der politischen Diskussion – und möglichst auch des Handelns – stehen sollten.

8 Kommentare

  1. Hallo Herr Dr. Ehmer, ich kann mit dem vor mir stehenden Kommentar nur anschließen. Wie immer 100% auf den Punkt gebracht. Menschen wie Sie, mit Ihrer Einstellung braucht Deutschland! VG ein ehemaliger SP:ler

  2. Sehr geehrter Hr. Dr. Ehmer, Ihre Beiträge sind geprägt von einem hohen intellektuellen Anspruch und liefern Inhalte von außergewöhnlicher Qualität. Sie bieten nicht nur wertvolle Einblicke in aktuelle Themen des Zeitgeschehens, sondern fördern auch kritisches Denken und innovative Ansätze.
    Ihre Fähigkeit, komplexe Themen verständlich und präzise darzustellen, hebt sich von vielen anderen Veröffentlichungen ab. Jeder Blogbeitrag reflektiert Ihre tiefe Fachkenntnis und Ihr Engagement für Exzellenz.
    Diese Wertschätzung resultiert nicht nur aus der Qualität der Inhalte, sondern auch aus der Art und Weise, wie Sie diese aus Ihrer Sicht mitteilen  und formulieren.
    Man findet in Ihren Blogeinträgen nicht nur zuverlässige Informationen, sondern auch eine Quelle der Inspiration und des Ansporns, sich selbst mit vielen Themen auseinanderzusetzen und diese auch zu hinterfragen.
    Danke dafür!

  3. Korrekte Einschätzung. Parteipolitisch wird auf der Linken immer diskutiert, dass man vom Mindestlohn nicht leben könne und er deswegen massiv erhöht werden müsse. Sie sprechen das Thema ebenfalls an und ergänzen zurecht, mit einer Anpassung der Steuerprogression und Sozialabgaben den Druck mildern zu können. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen: wenn das nicht ausreicht, kann man auch zusätzlich unterstützen und einen Abstand zum Bürgergeld sicherstellen, das ist allemal besser und würdiger als arbeitslose Sozialtransfers. Als Unternehmer kann ich nicht dauerhaft mehr für Arbeit bezahlen als die Kunden zu zahlen bereit sind. Unsere östlichen Anrainer haben einen Mindestlohn von um und unter 6 €/Stunde (TEMU, Shein etc. mal ganz außer Acht gelassen) . Ungelernte und angelernte Arbeit wird dann zwangsläufig aus Deutschland verschwinden und die Arbeitenden zu reinen Transferempfängern machen. Branchen für niedrig und unqualifizierte Arbeit wie die Logistik finden hier dann nicht mehr statt, inklusive der von diesen gezahlten Steuern und der verursachten Einkommenssteuern der Mitarbeitenden. Linker Populismus, der Deutschland wirtschaftliche Basis weiter erodieren wird. Dazu kommt, wie Sie richtig feststellen, dass eine solche Flut alle Boote hebt, auch alle Lohngruppen oberhalb des Mindestlohns, denn die Menschen haben ein feines Gespür für die unterschiedliche Wertigkeit Ihrer Tätigkeiten und Fähigkeiten.
    In 2022 hätte die 25%!!! Mindestlohnerhöhung allein bei den Betroffenen in unsere Logistik eine Lohnsummenanpassung von 7-8% verursacht. Tatsächlich war es nach 7 Monaten eine Lohnsummenerhöhung von gesamt 20%. Bei Lohnquoten um 50% kann jeder mal drüber nachdenken, wie wahrscheinlich es ist, bei Kunden aus dem Stand 10% Preiserhöhungen durchzusetzen. Dazu 21% Nebenkosten bedeutet, dem Mitarbeitenden bleibt ein wenig mehr bei dramatisch gestiegenen Personalkosten auf Unternehmensseite. Der Großteil dieser „Wohltat“ wird schlicht vom Staat abgeschöpft.

  4. Und wieder ein hervorragender Blog zum lesen im Zug. Auch wie Sie erwähnt haben, bin ich der Meinung, das Thema „Mindestlohn“ sollte im Zentrum des politischen Diskussion stehen.
    Zudem finde ich ihren Lösungsvorschlag etwas „out of the Box“. Aber genau das brauchen wir in der jetzigen Zeit…. Einfache Lösung mit einer großen Auswirkung.

    Liebe Grüße!

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