Über die Anhebung des Mindestlohns von aktuell 9,82 Euro auf 12 Euro wurde und wird viel diskutiert. Dieser höhere Mindestlohn hat den Weg vom Wahlkampfversprechen in den Koalitionsvertrag und jetzt auch in einen Gesetzesentwurf gefunden. Für die einen ist es eine Herzensangelegenheit, eine Frage der Leistungsgerechtigkeit oder schlicht eine Frage des Respekts, wie es Bundeskanzler Scholz und Bundesarbeits- und sozialminister Heil formulieren. Für die anderen ist es ein systemfremder Eingriff in die Tarifautonomie, der zu einem Anstieg der Schwarzarbeit und Arbeitsplatzvernichtung führen wird. Die Fronten sind verhärtet.
Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte – und es gibt noch zusätzliche bemerkenswerte Facetten.
Unzweifelhaft ist es so, dass von 9,86 Euro kaum jemand vernünftig leben kann, und dass der Abstand zum Empfang von Transferleistungen zu gering ist, wenn überhaupt vorhanden. Wer große soziale Gräben vermeiden möchte, der muss hohe Sympathie für konkretes Handeln zeigen. Aus sozialer Verantwortung heraus also ein begrüßenswertes Vorhaben.
Gleichzeitig ist aber auch richtig, dass die Tarifautonomie aus guten Gründen – und im Großen und Ganzen auch allgemein als gut bewährt anerkannt – bei den Tarifpartnern liegt. Dies ist ein Kernmerkmal unserer sozialen Marktwirtschaft. Jeder staatliche Eingriff stört potenziell das Gesamtsystem und die Balance.
Hinsichtlich der Frage nach Arbeitsplatzverlusten wird keiner behaupten können, dass die komplette Wirtschaft so schwer getroffen werden wird, dass es allein wegen der Anhebung des Mindestlohns zum massenhaften Wegfall von Arbeitsplätzen kommen wird. Richtig ist aber auch, dass es einige Arbeitsbereiche gibt, in denen eine Kostenweitergabe über Preiserhöhungen nicht möglich ist und/oder die Wettbewerbssituation eine 20%ige Gehaltserhöhung nicht zulässt, ohne im internationalen Wettbewerb noch deutlicher unter Druck zu geraten.
Etwas konkreter: In unseren Nachbarländern Frankreich und Niederlande liegt der Mindestlohn mehr als 10% niedriger als 12 Euro, in Polen beträgt er kaum die Hälfte, in Spanien nur wenig mehr als das. Die Folge ist eine (weitere) Schwächung des Exportstandortes Deutschland. Und noch mehr: In der Konsequenz wird auch manche Standortentscheidung in der Zukunft gegen den Standort Deutschland fallen. Nicht „nur“ wegen des erhöhten Mindestlohns, sondern auch wegen der überbordenden Bürokratie, explodierender Stromkosten im Vergleich zu fast allen anderen Staaten und desaströser digitaler Infrastruktur, um nur einiges zu nennen, das im Argen liegt. Die sicherlich auch vorhanden Standortvorteile Deutschlands können das immer weniger aufwiegen. Irgendein Tropfen ist es immer, der ein Fass zum Überlaufen bringt.
Vor diesem Gesamthintergrund lohnt ein Blick auf die konkreten Gesamtkosten, die mit der Erhöhung des Mindestlohns für Arbeitgeber verbunden sein werden. Die gut zwei Euro mehr Bruttolohn pro Stunde führen zu folgendem Ergebnis (vereinfacht berechnet für eine exemplarische Vollzeitkraft mit Steuerklasse 1):
Die monatlichen Nettobezüge erhöhen sich um rund 17%, das sind gut 200 Euro – in dieser Gehaltsklasse ein deutlich merkbarer Anstieg. Gut. Gleichzeitig erhöhen sich die Kosten des Arbeitgebers um über 20% – oder fast 450 Euro. Der Staat profitiert aufgrund der einsetzenden Steuerprogression mit einer Steigerung der Steuereinnahmen von fast 90%. Gegenüber den gut 200 Euro netto mehr für den Arbeitnehmer fließen auch rund 80 Euro mehr Steuern in die Staatskasse. Das ist mehr als ein Drittel dessen, was der Mitarbeitende durch den Mindestlohn zusätzlich erhält. Zusätzlich zahlen die Arbeitgeber über 20% mehr an die teils ebenfalls staatlichen Sozialversicherungsträger.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass der erhöhte Mindestlohn sich bei vielen „Begünstigten“ faktisch netto nicht oder nur teilweise bemerkbar machen wird, weil im Ergebnis gegenläufig aktuelle Transferleistungen verringert werden. Der Staat spart also Transferleistungen und erhält zusätzlich deutlich mehr Steuereinnahmen.
Mit anderen Worten: An der „Frage des Respekts“ partizipiert der Staat weit überproportional. Die politischen Entscheidungsträger müssen sich vor diesem Hintergrund fragen lassen, ob dies in der aktuellen Corona-Situation und dem beschriebenen Wettbewerbsumfeld gegenüber den Unternehmen respektvoll und angemessen sowie im Sinne einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik sinnvoll ist.
Es wäre wünschenswert, wenn der Staat seinen Beitrag dazu leisten würde, den Mindestlohn sozialverträglich anzuheben, indem er dies wenigstens faktisch für alle Beteiligten „brutto für netto“ ermöglicht. Der Nutzen für die Gehaltsempfangenden wäre größer, die Einsparung von Transferleistungen bliebe zu Gunsten der Staatskasse und die Kosten wären für die Unternehmen weniger belastend.
Also einmal mehr zeigt sich, dass die Steuerprogression viel zu lange nicht angefasst wurde.
Dass ein Geringverdiener bei 12eur die Stunde bereits einen Grenzsteuersatz von 27% erreicht, ist schlicht asozial und kein Respekt.
Korrekte Analyse, die neben der Übergriffigkeit des Staates auch die verbundene Scheinheiligkeit offenbart.
In räumlich flexiblen Branchen wie der Logistik sind die Preisabsände zu unseren östlichen Nachbarn häufig ein Entscheidungskriterium für Abwanderung nach Tschechien und Polen. Dazu kommt, dass diese Lohnanpassung um 20% nicht allein auf die überschaubare Zahl Mindestlohnempfänger beschränkt bleibt. In dem Bereich ungelernter und angelernter Arbeit werden langjährige und erfahrenere Mitarbeiter plötzlich auf dem Niveau der Einsteiger liegen, sicher aber in einem zu geringen Lohnabstand. In der Konsequenz werden wir nicht nur die gesetzlichen Anpassungen vornehmen, sondern mindestens bis zum Teamleiter wird jeder Mitarbeiter ähnliche Anhebungen verlangen, um das Gehaltsgefüge wieder herzustellen. Und sicher ist bei unserem hohen Personalkostenanteil im Fulfllment auch, dass wir diese Anpassungen nicht in vollem Umfang und nicht sofort weitergeben können. Dies verhindern allein Standard Vertragsklauseln, die bei Neukunden die verhandelte Preise für eine Mindestzeit fixieren. Das wird sicher ein Spaß, dies wegen Anpassungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verhandeln.
Sehr gute Analyse und Darstellung, die es zeigt, wer die wirklichen Gewinner aus der Anhebung des Mindestlohns sind. Leider nicht diejenigen, für die es augenscheinlich gedacht ist.