3G, 2G oder 1G – Verzockt, und nun?

Nein, es geht nicht um Mobilfunknetze, sonst ginge es ja auch eher um 5G satt um 1G. Mich beschäftigt die Frage, mit welcher Maßnahme wir in der aktuellen Corona-Situation dem Gemeinwohl am besten dienen. Und wie so oft ist es auf den zweiten Blick weniger leicht und offenkundig als auf den ersten.

Nun möchte ich mich keineswegs in die 80 Millionen einreihen, die nahtlos vom besseren Bundestrainer zum besseren Virologen mutiert sind. Aber nach dieser langen Zeit, die ich mich nun zwangsweise schon mit dem Thema beschäftige, traue ich mir in einigen Aspekten durchaus einen fundierten Kommentar zu. Vieles ist ja auch überwiegend Statistik und bedarf eher analytischer Grundfertigkeiten als virologischen Spezialwissens.

Wer die Entwicklung der letzten fast zwei Jahre nicht komplett verschlafen hat, dem musste klar sein, dass es so kommen wird, wie es nun in den letzten Wochen gekommen ist: Ein vielfach mutiertes Virus mit gestiegener Ansteckungskraft, gepaart mit deutlich reduzierten Schutzmaßnahmen und einer Impfquote, die wohl unter 70% liegt: Das verspricht nichts Gutes. Und wer dann noch ahnt, wie die Verbreitung steigt, sobald Menschen jahreszeitenbedingt wieder vermehrt enger in Innenräumen aufeinandertreffen, der wusste, dass es kritisch werden wird, wenn keine besonderen Maßnahmen ergriffen werden. Aber das war natürlich vor der Bundestagswahl unpopulär und direkt danach möchte auch niemand die heiße Kartoffel anfassen.

Und so passiert, was passieren musste: Die Zahlen der Infizierten (und auch der Infektiösen) steigen, die Anzahl der Erkrankten auch, die Krankenhäuser füllen sich. Richtig ist, dass Geimpfte sich wegen des Impfschutzes deutlich weniger häufig infizieren (und selbst wenn sie sich infizieren viel seltener ernsthaft erkranken und der Hilfe eines Krankenhauses bedürfen). Seltener heißt jedoch nicht nie. Zusammen mit den Ungeimpften, die in ihrer Relation zum Bevölkerungsanteil den absolut überwiegenden Anteil der Krankenhauspatienten ausmachen, bringen sie erneut das deutsche Gesundheitssystem, eines der besten weltweit, an seine Belastungsgrenze.

Dem Wunsch vieler nach „lass es endlich wieder normal sein“ und „das Ganze muss doch auch irgendwann einmal aufhören“ wurde von politischer Seite entsprochen. Dabei wurden einige Entscheidungen getroffen, die zwar als taktische Erwägung nachvollziehbar erscheinen, bei denen sich aber der Eindruck aufdrängt, dass sie kaum durchdacht waren – oder mit sehr hoher Risikobereitschaft getroffen wurden. Aus meiner Sicht haben sich die Entscheidungsträgerinnen und -träger verzockt und es ist dringend an der Zeit, sich dies einzugestehen, um weiteren Schaden abzuwenden.

Um den Druck auf Ungeimpfte zur Impfung zu erhöhen, wurden für Geimpfte Beschränkungen aufgehoben und die Testpflicht für Ungeimpfte (sozial ungerecht) dadurch verschärft, dass Testcenter geschlossen und Tests wieder kostenpflichtig wurden. Die gewünschte Wirkung, nämlich eine massive Impfzunahme und damit der weitestgehende Schutz der Gesamtbevölkerung, stellte sich jedoch nicht ein. Daher mein nüchternes Urteil: verzockt.

Im Gegenzug entstand ein schwunghafter (und ich wage zu sagen unkontrollierbarer) Zuwachs des Handels mit gefälschten Impfpässen. Gleichzeitig gingen die Testzahlen dramatisch zurück und parallel dazu fielen viele Schranken: Tatsächlich oder vermeintlich geimpfte Personen wurden mit unerkannt Infektiösen wieder „aufeinander losgelassen“.

Man muss kein Genie sein und auch kein Virologe, um zu wissen, dass das nicht gut gehen kann. Sieht man von taktischen Erwägungen ab, so fragt man sich als Laie schon, warum es richtig sein soll, dass Geimpfte von zahlreichen Schutzmaßnahmen für sich und andere befreit werden, wenn eben gerade nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie sich anstecken und dann auch für andere ansteckend sein können.

Es ist sogar noch perfider: Diese Gruppe steckt sich zwar deutlich seltener an, aber wenn sie sich ansteckt, dann merkt sie es oft wegen eines mehr oder minder symptomfreien Verlaufs nicht – bewegt sich also munter ohne Schutz für andere durch den öffentlichen Raum und steckt andere an. Die Konsequenz ist unvermeidbar: Immer mehr Menschen infizieren sich und in der Folge landen auch viele auf den Intensivstationen – in Relation häufiger Ungeimpfte, aber durchaus auch Geimpfte.

Der tiefere Sinn einer solchen Regelung erschließt sich bei nüchterner Betrachtung nicht. Umfassende Tests wären gerade auch für Geimpfte und Genesene sinnvoll, zum Schutze aller. Daher ist es auch wenig verwunderlich, dass die Fachleute, also Virologen, zunehmend darauf hinweisen, dass 1G im Sinne von „getestet“ im Vordergrund stehen sollte. Das heißt umfangreiches (kostenloses) Testen für alle, egal ob geimpft oder nicht. Das heißt aber nicht, dass nicht für bestimmte Situationen zusätzlich auch nur dem 2G-Personenkreis Zutritt gewährt werden sollte – aber eben getestet. Zusätzlich könnte man zur Steigerung der Impfmotivation dem Vorbild anderer Länder folgen und bereits nach der Erstimpfung – zusammen mit einem negativen Test – befristet 2G-Erleichterungen gewähren.

Jede durch Test als infektiös erkannte Person, die sich nicht mehr im öffentlichen Raum bewegt und die sich von anderen fernhält, unterbricht die Weiterverbreitung und entlastet damit Krankenhäuser und Gemeinwesen. Ich selbst teste mich trotz Impfung mindestens zweimal pro Woche und ich wüsste nicht, warum das nicht jeder machen sollte.

Einmal mehr gilt jedoch leider, dass der Sommer ungenutzt blieb und nun in einen Herbst der Ratlosigkeit und operativen Hektik mündet. Es wurde versäumt, eine entsprechende Infrastruktur und angemessene Regeln vorzubereiten. Viele Arbeitgeber testen von sich aus ihre Mitarbeiterschaft, auch aus sozialer Verantwortung. Das hätte eine hervorragende Ausgangsbasis für breitflächige Regeltests unabhängig vom Impfstatus sein können.

Neben allen gesundheitspolitischen und sozialen sowie ethischen Erwägungen wäre eine solche umfassende Testpflicht auch aus volkswirtschaftlicher Sicht überaus sinnvoll, denn die Übernahme der Testkosten durch den Staat wäre weitaus günstiger als die Folgen des derzeitigen Handelns. Und damit meine ich nicht etwa nur die Folgen für die Volkswirtschaft und die ökonomischen Konsequenzen für Millionen von Menschen, ich meine auch die sozialen Auswirkungen und die Zumutungen gerade für die Ältesten und Jüngsten in unserer Gesellschaft.

Flächendeckende Test für alle hätten noch einen weiteren Vorteil. Auch wenn ich mich damit auf dünnes Eis begebe und ich weiß, dass es hierzu eine starke andere Meinung gibt: Ich bin durchaus der Ansicht, dass jeder frei entscheiden soll, ob er sich impfen lässt, oder nicht. Gerne ergänze ich: Wer sich nicht impfen lässt, muss auch bereit sein, persönlich die Konsequenzen aus dieser Entscheidung zu tragen – und die können gravierend sein.

Was aber aus meiner Sicht nicht diskussionsfähig ist, das ist die Frage, ob jemand bereit sein muss, sich einem Test zu unterziehen. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und die Selbstbestimmung ist extrem gering; das mit einem Test verbundene Risiko ist nahezu nicht existent. Somit gibt es keinen Grund, warum jemand einen Test zurückweisen dürfen sollte. Kein Test bedeutet dann eben den kompletten Ausschluss vom öffentlichen Leben, solange die Situation derart angespannt ist.

Also, liebe Entscheidungsträgerinnen und -träger: Der Versuch geschah vermutlich mit bester Absicht. Die Untätigkeit im Sommer mag am Wahlkampf gelegen haben und das Verzocken sei auch nicht weiter krummgenommen, aber es ist höchste Eisenbahn, die Fehlentscheidung zu korrigieren. Wir brauchen sehr schnell vom Impfstatus unabhängige kostenlose Test für alle und damit einhergehend auch eine Testpflicht für alle, die mit anderen in Kontakt treten wollen.

Ein Kommentar

  1. Hallo Herr Ehmer,
    ein toller Beitrag und Sie sprechen mir aus der Seele.
    Viele Grüße 🖖 und eine gute und gesunde Herbstzeit.

    Matthias Meyer

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